Wie kann es eigentlich sein, dass Rollstuhlfahrer und Rollstuhlfahrerinnen nicht auf den Berliner Fernsehturm dürfen? Seit dem Start der Wheelmap im Jahr 2010 hat uns diese Frage begleitet, denn der Fernsehturm war stets unser prominentes Negativbeispiel für nicht rollstuhlgerechte Orte.
2013 hatten wir uns schließlich entschieden, dieser Kernfrage auf den Grund zu gehen und den Status quo zu verstehen. Gleichzeitig hatten wir natürlich das Ziel, den Zugang für Rollstuhlfahrer und Rollstuhlfahrerinnen zu verbessern.

Hintergrund

Der Eigentümer des Berliner Fernsehturms ist die Deutsche Funkturm GmbH. Betreiberin des öffentlichen Bereiches ist die TV Turm Alexanderplatz Gastronomiegesellschaft mbH. Mit Unterstützung des Berliner Behindertenbeauftragten, Dr. Jürgen Schneider, und der Antidiskriminierungsstelle des Bundes baten wir Betreiber und Eigentümer erfolgreich um ihre Kooperation.

Problem- und Fragestellungen

Wir lernten, dass die Berliner Brandschutzbestimmungen ausschlaggebend dafür sind, dass im Ernstfall keine geeigneten Evakuierungsmaßnahmen für Menschen, die auf einen Rollstuhl oder ähnliche Hilfsmittel angewiesen sind, entwickelt werden konnten. Schließlich wäre z.B. im Brandfall die Aufzugsanlage deaktiviert und die Menschen müssten die Treppen benutzen.

Wir fühlten uns herausgefordert und wollten uns weiter in das Thema vertiefen. Denn nach dieser Ausgangssituation kamen viele Fragen bei uns auf:

  • Ist die Situation heute eigentlich rechtmäßig hinsichtlich der UN-Behindertenrechtskonvention und dem Allgemeinen Gleichstellungsgesetz (AGG)?
  • Warum gibt es keine Evakuierungsaufzüge, die auch im Brandfall funktionieren? Und kann man diese nachrüsten?
  • Wie sieht eigentlich der Evakuierungsplan aus, der aufgrund der Brandschutzordnung existieren muss?
  • Was für Hilfsmittel wurden bereits getestet, um Rollstuhlfahrern und Rollstuhlfahrerinnen rechtzeitig zu evakuieren?
  • Kann die Berliner Feuerwehr die auf Hilfe angewiesenen Menschen nicht evakuieren?

Wir merkten, dass die Sache zunehmend komplex wird und wussten, dass wir weitere Fachleute hinzuziehen mussten. Es fanden daher mehrere Gespräche und Gesprächsrunden u.a. mit Vertretern der Berliner Feuerwehr statt, mit Brandschutzbeauftragten, Vertretern der Obersten Bauaufsicht der Berliner Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt, des Bezirksamts Mitte, dem Berliner Behindertenbeauftragten, mit Sachverständigen, Technikern und Architekten, die auf Barrierefreiheit spezialisiert sind und den GeschäftsführerInnen von Betreiber und Eigentümer des Berliner Fernsehturms. Dieser umfassende Prozess zog sich mehrere Monate hin.

Vorhandene Baumasse kaum änderbar

Offen gestanden: wir waren zunehmend desillusioniert und ernüchtert. Die Baumasse des Fernsehturms, der ja Mitte der 60er Jahre entstand, ist erstmal so wie sie ist. Anbauten Fehlanzeige. Ähnlich verhält es sich mit dem Aufzugsschacht. Dieser ist nicht rauchfrei und wenn man hier zusätzliche Brandschottungen einziehen würde, um technisch aufwändigere Aufzüge einzubauen und für einen rauchfreien Schacht mit atembarer Atmosphäre zu sorgen, müsste man den Turm nahezu abreißen und neu errichten. Eine unrealistische Forderung, die für uns nicht in Frage kam.

Wir prüften auch die in Evakuierungskonzepten angeführten Möglichkeiten von Schutzräumen. Schutzräume sind in der Regel mindestens für 90 Minuten feuersicher. Sie sind dazu da, dass Menschen, die sich nicht selbst evakuieren können, in einem Raum mit Gegensprechanlage auf Rettung warten. Dieses Konzept, welches beispielsweise zunehmend in US-amerikanischen Kinos angewendet wird, war nicht nur aus baulichen Gründen schwierig, sondern auch aus Gründen der Evakuierung. Die Berliner Feuerwehr hat in erster Linie den Auftrag, einen Brand zu löschen. Natürlich würden sie im Ernstfall alles mögliche tun, um den zu rettenden Personen zu helfen – aber dies schon im Konzept vorzusehen, lehnt sie ab. Wir können das verstehen, denn die Bedingungen im Turm sind sehr speziell und kaum mit anderen baulichen Situationen vergleichbar.

Sind Ihnen schon mal die zwei Ringe unterhalb der Kugel des Fernsehturm aufgefallen? Das sind die sogenannten Evakuierungsplattformen. Im Brandfall und bei entsprechender Rauchentwicklung ist es also nicht vorgesehen, die ganzen Treppen bis zum Erdgeschoss zu gehen, sondern sich auf die Plattformen zu begeben, die für jeweils 200 Menschen ausgelegt sind.
Zusätzlich haben diese die Funktion, dass die zu evakuierenden Personen und die entgegenkommende Feuerwehr nicht aufeinandertreffen und sich gegenseitig behindern.

Auf der Suche nach Lösungsmöglichkeiten

Wir waren also motiviert, Möglichkeiten zu finden, wie im Evakuierungsfall Menschen im Rollstuhl über das Treppenhaus auf diese Evakuierungsplattformen gelangen können. Wir hatten von der Geschäftsführerin, Frau Aue, erfahren, dass in den vergangenen zehn Jahren schon verschiedenste Rettungsszenarien durchgespielt worden sind, um Menschen zu evakuieren. Das abenteuerlichste Beispiel war ein Abseilmanöver, was sich durch die starken Winde in 200m Höhe als äußerst kritisch herausstellte. Wir waren erstaunt, was alles erprobt wurde. Aber wir wollten auch einmal Klarheit, was ganz konventionelle Mittel der Evakuierungshilfe angeht.
So hatten wir z.B. vor Ort die Nutzung von sogenannten ‘Evac Chairs’ getestet – das sind Stühle, in die sich die zu rettende Person hineinsetzt oder hineingeholfen wird und welche durch einen Evakuierungshelfer bedient wird. In der Praxis (und nach einer Einweisung) gleitet der Stuhl auf den Treppenschwellen hinunter und bremst sich dabei selbst ab. Allerdings erwiesen sich die Plattformen des Treppenhauses als zu eng, als dass man den ‘Evac Chair’ um die Kurve manövrieren könnte. Also Fehlanzeige.
Es gab aber noch ein einfacheres Mittel – von Berliner Brandschutzbeauftragten oftmals als gängiges Mittel wurde uns ein Rettungstuch empfohlen. Dieses robuste Tuch hat links und rechts jeweils zwei Tragegriffe. Vier Menschen sollten die in dem Tuch liegende Person dann heruntertragen. Auch hier folgte der Praxistest und auch hier erwiesen sich die Treppenhäuser als die Achillesferse für diese Art der Rettung. Es war unmöglich, dass Evakuierungshelfer links und rechts des Tragetuchs genug Platz fanden, um sicher und zügig zum Evakuierungsbereich zu gelangen.

Unsere Ergebnisse

Zeit für ein Fazit: unsere Befürchtung, dass bei den Verantwortlichen des TV Turms kein Wille besteht, die Situation für Rollstuhlfahrer und Rollstuhlfahrerinnen zu verbessern, wurde durch die intensive und offene Zusammenarbeit widerlegt. Unsere Fragen wurden beantwortet, neue Lösungsansätze geprüft und in der Praxis erprobt. Unser Wunsch, die Situation für die betroffenen Menschen mit Hintergrundinformationen zu erläutern, wurde ebenso verstanden. Dazu dient auch dieser Blogartikel sowie zusätzliche Informationen auf der Seite des Betreibers. Barrierefreiheit und Inklusion sind eine Sache der Kultur – das Beispiel des Berliner Fernsehturms soll und darf nur eines von wenigen Extremfällen sein. Diese begründeten Fälle von Ungleichbehandlung sind auch rein rechtlich durch das AGG gestattet, da Gefährdungen abgewendet werden sollen und es „realistische und nachvollziehbare Gefahrenprognosen“ dafür gibt, denen mit den Möglichkeiten von heute nicht verantwortungsvoll begegnet werden kann.

Und jetzt?

Auf der Wheelmap wird der Berliner Fernsehturm daher weiterhin rot markiert sein. Trotzdem muss in Berlin niemand auf schöne Aussichten verzichten. Es gibt Alternativen zum Fernsehturm. Zum einen den Panoramapunkt im Kohlhoff-Tower am Potsdamer Platz mit dem schnellsten Fahrstuhl Europas. Zwar ist die oberste Plattform nur über Treppen zu erreichen, aber die untere bietet schon einen wunderbaren Ausblick über Berlin.
Zum anderen die Terrasse des Park Inn Hotels am Alexanderplatz.